Glossen/Kolumnen

Brief an ein Schaltjahr

So, du Jahr 2020, jetzt haben wir dich ja fast geschafft. Oder du uns, wenn man es sich genau überlegt. Mal ehrlich: Wir alle hatten uns dich anders vorgestellt. Weniger Pandemie, mehr Spaß, weniger Verschwörungstheorien, mehr Gemeinsam- und weniger Einsamkeit; kurz: Deutlich mehr Lametta.

Dabei hätte man ja eigentlich mit einem gewissen Arschloch-Faktor deinerseits rechnen müssen, schließlich bist du ein Schaltjahr. Und, wie jeder weiß, gelten Schaltjahre als Katastrophenjahre. In Schaltjahren soll man lieber keine Häuser bauen oder Ehen schließen – das geht nicht gut, sagt der Volksmund. Früher glaubte man sogar, dass Kinder, die ihren Geburtstag nur alle vier Jahre feiern können, von Geistern heimgesucht würden. Dabei sind die bösen Schaltjahre doch so wichtig, denn ohne sie flöge uns die Zeitrechnung um die Ohren und das große Kalenderchaos bräche aus. Mal was für die Freunde des unnützen Wissens unter uns: Gäbe es keine Schaltjahre, würde Weihnachten in knapp 730 Jahren mitten im Sommer stattfinden. Das liegt daran, dass die Erde ca. 365,25 Tage braucht, um die Sonne zu umrunden (aber das ist jetzt wirklich was für Klugscheißer!).

In Sachen Chaos hast du, liebes scheidendes 2020, deinen Teil sauber erledigt. Es ist wohl kein Zufall, dass Chaos und Corona beide mit C anfangen. Hätte uns letztes Jahr um diese Zeit jemand erzählt, dass wir 2020 zweimal wochenlang im Lockdown leben und nur für das Allernötigste das Haus verlassen würden – wir hätten ihn sicher ausgelacht. Hätte irgendwer gedacht, dass wir, die wir uns immer über maskentragende asiatische Touristen lustig gemacht haben, die Dinger selbst einmal freiwillig in der Öffentlichkeit tragen würden (jedenfalls die Schlauen unter uns)? Dass ausgerechnet in unserem „Land der Dichter und Denker“ (aber nicht der Digitalisierung) monatelang die Schulen schließen würden? Dass wir unsere Reisetätigkeit und sogar unsere Sozialkontakte extrem einschränken würden? Dass wir, hätten wir auch nur entfernt geahnt was uns 2020 erwartet, mit Freuden unser gesamtes Vermögen in Klopapier-Aktien angelegt hätten?

Du, 2020, hast mit deiner blöden Corona-Pandemie unser Leben, unsere Gesellschaft und den Mehrwertsteuersatz zumindest vorübergehend verändert. Du hast uns gelehrt, wie man sich die Hände wirklich richtig wäscht, hast Virologen und Epidemiologen zu Rockstars gemacht und hattest mehr „ARD extras“ und „ZDF spezials“ als jedes andere Thema zuvor. Und du wirst auch dieses Weihnachten noch verändern. Die Christkindlesmärkte sind der Pandemie ebenso zum Opfer gefallen wie Weihnachtsfeiern aller Art. Für Großfamilien unterm Tannenbaum sieht es zum Fest nicht wirklich gut aus – da muss man dann auf Gruppenarbeit wie früher in der Schule zurückgreifen.

Das einzig Gute am zweiten Lockdown in der Adventszeit war der Wegfall des Terminstresses. Was sind wir in den letzten Jahren von einem „besinnlichen“ Highlight zum nächsten gehetzt! Dieses Jahr besinnen wir uns zum Fest wirklich auf das Wesentliche – termin- und alternativlos für alle. Da bekommt das Lied „Stille Nacht“ eine ganz neue Bedeutung.

Aber auch unser erstes und hoffentlich einziges Pandemie-Weihnachten werden wir überstehen, mit den nötigen Sicherheitsmaßnahmen und vor allem mit etwas Galgenhumor. Ein bisschen „back to basics“ wird es vermutlich werden, mit Brettspielen und kitschigen Weihnachtsfilmen. Vielleicht auch mit einem Treffen mit lieben Menschen – im Freien, bei Glühwein und/oder Kakao, ganz vielen Weihnachtsplätzchen und ganz viel Abstand.

Tja, altes Schaltjahr, das war’s dann jetzt bald für dich. Wenn du gehst, mach die Tür bitte leise zu – auf den Putz gehauen hast du schon genug. Und dreh dich lieber nicht mehr um. Es würde dir sicher nicht gefallen, uns an Silvester alle rufen zu hören:

„Hoch die Hände, Jahresende!“

 

© Marion Bröhl 2020